19.12.2011

Intervention im HKW

Angriff auf die Demokratie


Literaturwissenschaftler Harald Welzer bekennt: "Ich hatte recht mit 15."
Foto: Peter Knobloch

► Der Markt hat die Demokratie in weiten Teilen ausgehebelt. Bei der Problemdefinition waren sich zehn Intellektuelle am Sonntag einig. Jetzt müssen Lösungen her

Eine Diskussion gab es nicht, so viel vorne weg. Und es hätte sie wohl auch nicht gegeben, bei der Intervention zum Thema „Angriff auf die Demokratie“ – jedenfalls nicht ohne redundant zu werden. So einig waren sich am Sonntag die zehn Redner aus Wissenschaft, Kultur und Publizistik. Zusammen mit Roger Willemsen lud der Kulturwissenschaftler Harald Welzer die „Deutungseliten“, wie er sie nannte, ins Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Initiator Welzer erinnert sich an seine Jugend. „Mit 15“ habe er die Welt gesehen, wie er sie heute wieder sieht. Bis vor wenigen Jahren, so analysiert der Intellektuelle seine eigene Entwicklung, habe jedoch eine Mischung aus Wissen und Unzuständigkeit seine Haltung bestimmt. Diese arrogante Position könne man sich heute nicht mehr leisten, „wenn man sich selbst ernst nehmen will.“

„Mit 15 hatte ich recht,“ weiß Welzer heute. Damals konnte er nur ahnen, was nicht Politikwissenschaftler oder Soziologen, sondern Mathematiker und Informatiker in Zürich herausfanden: 147 Konzerne kontrollieren die Weltwirtschaft. Das sind die Ergebnisse einer Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH). Unter den 50 mächtigsten Konzernen finden sich fast ausnahmslos Finanz- und Versicherungsunternehmen. Ein Unternehmen der Top 50 ist in der Ölwirtschaft. Diese globalen Spieler sind „too connected to fail“, weil sie ihren Einfluss über Netzwerke bündeln.

Politiker wie Designprodukte

Der Markt hat nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft bis in ihre letzten Winkel durchdrungen, waren sich die Redner einig. „Politiker funktionieren wie ein Designprodukt“, so Architekturtheoretiker Friedrich von Borries. Marketing-Begriffe wie „Zielgruppen und Kernbotschaften“ bestimmten die Politik. „Now is our time.“ In einem Youtubeclip sieht man, wie die Letter in ein Industriegemäuer gesprengt werden. Die Botschaft entstammt aber nicht etwa dem Plakat eines Occupy-Demonstranten, sondern einem Werbevideo des Jeansherstellers Levis, das von einer politischen Kampagne kaum noch zu unterscheiden ist. Der dänische Künstler Olafur Elliason bietet Berliner Landespolitikern ein Stipendium an. Vielleicht gäbe es bald auch für Berufpolitiker Bachelor- und Masterstudiengänge, witzelt von Borries. So könnte auch ein Arbeitsethos ähnlich wie im Medizinstudium vermittelt werden.

Die gesamte Europäische Integration wurde über die Köpfe der Bürger hinweg entschieden, stellt Franziska Augstein nüchtern fest. In der aktuellen Krisenhysterie werde das Europaparlament wie eine „Schwatzbude“ nach Bismarck’scher Deutung übergangen. Eingangsrednerin Carolin Emcke sieht in Europa längst eine „Idee ohne Eigenschaften“. Die Journalistin kritisierte wie Autor Ingo Schulze den in der Politik zur Ideologie gewordenen Wachstumszwang.

FAZ-Redakteurin Julia Encke sprach von einer Diktatur der Sachzwänge. Mit der behaupteten „Alternativlosigkeit“ von überhastet getroffenen Maßnahmen, legitimiere die Politik, warum sie sich der Verantwortung entzieht. Das passende Beispiel lieferte Franziska Augstein: Ausgerechnet die Deutsche Bank hat das Gesetzespaket zur Bankenrettung geschnürt. Dabei erziele der Kapitalismus „Gewinne durch die permanente Krise“, konstatierte der zukünftige Feuilleton-Chef der FAZ Nils Minkmar. Und anstatt zu fragen, „ob wir die Märkte brauchen“, werde nur noch gefragt, was „die Märkte brauchen“, so seine Kollegin Encke. Der Markt bestimme längst den Takt der Politik. Mit Fragen wie „Wann öffnet die Börse in Fernost?“ habe sich die Politik das Zeitregime der Finanzwelt aufoktroyieren lassen. Demokratie funktioniere aber nicht wie die digital automatisierten Analyseprogramme der Finanz-Jongleure. Demokratie braucht Zeit.

Literaturwissenschaftler Joseph Vogel verdeutlichte die enge Bande zwischen Politikern und Unternehmen so: Zwischen Markt und Staat herrsche wie häufig falsch angenommen keine Konfliktlinie. Sie verlaufe vielmehr zwischen ökonomisch-politischen und zivilgesellschaftlichen Interessen und Entscheidungen.

Triumph über die Demokratie

Als etwa der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou es im November wagte, sein Volk zu den drastischen Sparmaßnahmen befragen zu wollen, konnte Minkmar vor Ort förmlich den „Ekel aus den Gesichtern“ der Volksvertreter beim G-20-Gipfel ablesen. Europas selbsternannte Retter triumphierten, so schien es Minkmar, nachdem Papandreou wie ein geschlagener Hund vom Gipfel nach Hause flüchten musste – ins Geburtsland der Demokratie.

Nicht nur Politiker, auch Journalisten glichen zunehmend Tradern, meint Minkmar. Sie sähen nicht nur so aus wie Börsianer, sie sprächen auch so, nur ohne Kokain zu schnupfen. Initiator Harald Welzer übte Selbstkritik: „Wir haben den Ökonomen das Feld überlassen.“ Jenen Leuten, die Jahrzehnte lang nicht anderes getan hätten, als die jetzigen „Marktverhältnisse zu affirmieren“. Sie würden von der Presse als Experten herangeholt, um die aktuelle Lage in den Wirtschaftsteilen der Zeitungen zu bewerten. Aus der Politikwissenschaft und der Soziologie höre man hingegen überhaupt nichts.

„Ratlos und verlegen“ fühlte sich auch Rogar Willemsen in seiner Verantwortung als Kulturschaffender. Denn Kultur und Medien hätten sich von einer Ökonomisierung durchdringen lassen. Willemsen mahnte: „Kultur besteht nicht aus dem Erwerb und Konsum von Produkten.“ Auf die Rezeption komme es an, auf unser„ Ahnen, Fühlen, Glauben, Meinen, Vermuten, Wähnen, Albernwerden und Begehren, Alterwerden und Trösten“. Medien und Kultur bräuchten einen exterritorialen Standpunkt, ähnlich einer außerparlamentarischen Opposition.

Journalistin Carolin Emcke sah ebenfalls eine Krise ihres Berufsstands. Der Journalismus habe es versäumt, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. In der Problemdefinition sind sich alle einig. Sie bedarf keiner weiteren Diskussion. Jetzt müssen auch Journalisten Alternativen schaffen, so Emcke sinngemäß.

Erscheinungsort: Der Freitag