30.05.2012

Clara Ott

Die Theorie vom nullten Sex

► In ihrem Roman-Debüt "Aufrüschbar" hat Clara Ott ihre Portagonistin Lotte die Theorie vom nullten Sex entwickeln lassen. Warum es gut sein kann, erst nur darüber zu reden.

Let’s talk about Sex. Clara Ott musste in den letzten Wochen viele Fragen beantworten. „In Ihrem Buch wird auch die ‚Theorie vom nullten Sex‘ propagiert“. Worum geht es da?“, wurde die junge Autorin in der Wochenzeitung der Freitag gefragt. Ott: „Man sollte manchmal lieber nur über Sex reden, als ihn zu haben.“ Die Bild wollte es genau wissen: „Warum ist ‚Nullter Sex‘ besser als Sex?“ Und vor allem: „Wie reagieren Männer auf diese Theorie?“ Aber eins nach dem andere.

Zunächst sei gesagt: Es geht nicht um „Sex unter Verliebten, denn das ist eindeutig schon geklärt, romantisiert abgesegnet und in trockenen Bettlaken“, schreibt Autorin Clara Ott in der Rheinischen Post. Und es sei keine Theorie, an die sie auch persönlich glaube, so die 32-Jährige im Freitag.

In ihrem Debüt-Roman „Aufrüschbar“ macht sich die 28-jährige Schneiderin Lotte zusammen mit ihrer Freundin Cosima selbstständig: Sie motzen Wäsche von der Stange auf. Die Idee schlägt voll ein, das Geschäft blüht, Lottes Liebesleben bewegt sich hingegen auf einem emotional bedrohlichen Zickzackkurs: Zu oft wacht sie neben Männern auf, die da gar nicht liegen sollten. So entwickelt Lotte ihre Theorie vom nullten Sex: Eine Mischung aus Selbstschutz und Hinhaltetaktik – auch, wenn Autorin Ott bei letzterem wohl widersprechen würde.

Sex: in der Nacht das einfachste der Welt – vielleicht sagen manche Ammis auch deshalb so gerne „simple as fuck“. Jedesnfalls: Bei Tageslicht betrachtet macht es die Dinge zwischen Frau und Mann kompliziert. Das ließe sich vermeiden mit – Sie ahnen es – nulltem Sex. Wie Autorin Clara Ott in der Rheinischen Post schreibt, habe sie es einem Mann in einer Bar einmal folgendermaßen erklärt: „Ganz gleich, ob beide Fremde oder Freunde sind, so ist alles nach diesem Mal heikel. Es gibt nämlich am nächsten Morgen nur drei Lösungen:

1. Nur noch Sex.

2. Nie wieder Sex.

3. Sex plus Liebe.“

Lotte beziehungsweise Clara Ott – das ist hier nicht ganz klar – rechnet vom dritten Mal zurück: „Die meisten Frauen verlieben sich nach dem dritten Akt in den Mann,“ erklärt Ott dem Herrn am Tresen. Zum dritten Mal komme es aber nur, wenn das zweite Mal so gut war, wie das erste. Was nach dem ersten Mal passiert, ist entscheidend: Nur Sex ist blöd, wenn frau sich nach dem dritten Mal tatsächlich verlieben sollte. Das Risiko ist hoch. Nie wieder Sex bedeutet meist auch nie wieder Kontakt, so zumindest die Erfahrung von Frau Ott beziehungsweise Lotte. Liebe und Sex, also eine Liebesbeziehung – so glücklich endet eine spontane Nummer so gut wie nie.

Deshalb sollte frau, wenn sie einen attraktiven Mann, in den sie (noch) nicht verliebt ist, auch wirklich mag, ihr Verlangen in der ersten gemeinsamen Nacht unterdrücken. Über den Sex nur reden. Dem Herren deutlich machen: Ich weiß, wir beide würde zu gerne, aber es wird nicht passieren, nicht heute. Warum nicht? Schließlich ist Frau aufgeklärt, emanzipiert und weiß was sie will: Sex. Das hat sie ja soeben gesagt. Warum also verschieben? Um herauszufinden, ob Option drei möglich ist, also das Allinklusive-Paket aus Sex und Liebe. Wenn mensch die Finger voneinander lässt (inklusive Kuss) „und sich dennoch weiter trifft, dann kann daraus mehr werden. Der Mann verliert dann nicht so schnell das Interesse.“ Und wenn doch nichts draus wird: Eine Freundschaft ist immer noch drin, anders als nach einer mehr oder minder heißen Nacht, glaubt Ott.

Während ich das lese, kommt die innere Alice Schwarzer nicht bei mir durch. Vielleicht bin ich vom Patriarchat manipuliert, aber nach meiner Erfahrung hat Frau Ott in vielen Punkten recht. Die Frage ist, ob sich das Ganze nicht auch unabhängig vom Geschlecht erklären ließe. Jedenfalls war ich vor längerem einmal zu ähnlichen Überlegungen gekommen.

Die Grundbedingungen sind gleich: Frau und Mann sind nicht ineinander verliebt. Sie lernen sich kennen, plaudern, kommen sich näher. Otto Normalo will Frau Mustermann so schnell wie möglich an die Wäsche, natürlich nur sofern sie attraktiv ist, eine gewisse erotische Ausstrahlung auf ihn hat und sich dem Herrn auch interessiert zeigt. Sein Primärziel: Sex. So sind wir, die Mehrzahl der Herren, genormt – ob von Mutter Natur oder vom Patriarchat, das ist eine interessante Frage, spielt hier aber erst mal keine Rolle.

Bei Frauen ist es meiner Erfahrung nach umgekehrt. Die Dame, wie gesagt auch hier spreche ich von einer Frau Mustermann, hält sich erst einmal zurück, ist kritisch gegenüber direkten sexuellen Avancen. Natürlich will sie auch Sex, aber eben nicht sofort und unüberlegt. Dafür kann es zwei Gründe geben. Wenn sie ihn schnell ranlässt, beschimpft das Patriarchat, verlogen wie es ist, die Dame als Schlampe. Das ist natürlich total albern, weil bigott. Besser argumentiert hingegen Mutter Natur: Vorsicht, im Ernstfall bist du schwanger, nicht der Typ! Verhütungsmittel waren im evolutionären Bauplan schließlich noch nicht vorhergesehen. Ihr Primärziel deshalb: Sicherheit.

Während Mann also – relativ sorglos – versucht, so schnell wie möglich zum vermeintlich Wesentlichen zu kommen, tendiert Frau dazu, so lange zu warten, bis sie sich in ihrer Entscheidung sicher fühlt: Der macht sich nicht gleich aus dem Staub.

Wenn sie ihn aber bei der ersten Gelegenheit ranlässt, ist er nach der ersten Gelegenheit auch verschwunden. Sein Primärziel ist erreicht: Er hatte Sex. Das gilt natürlich nur, wenn er noch nicht verliebt ist, also noch keine emotionale Bindung zu der Frau aufgebaut hat.

Umso länger sie sich also schützt und ihn hinhält, umso eher können sich die beiden annähern. Dabei bleiben beide bei ihrem Primärziel: Sie hat Zeit zu erkennen, ob er ein potentieller Vater ist, der Sicherheit gibt. Umso mehr Sicherheit er bietet, umso eher schwindet ihre Skepsis. So rückt ihr sexuelles Verlangen immer stärker in den Vordergrund. Und auch sein Verlangen wächst von Tag zu Tag – aber nur wenn der erste Eindruck auch hält, was er verspricht, sie also wirklich eine potentielle Partnerin für ihn ist auch langfristig. Es entwickelt sich eine emotionale Bindung: Die beiden verlieben sich.

Von so einem dualistischen Gedöns wollte ich lange nichts wissen. Ich habe Alice Schwarzers Klassiker gelesen. Und es hat mir gefallen! Nun macht Mensch aber auch Erfahrungen und die spielen sich in einer noch immer vom Patriarchat geprägten Umgebung ab. So kam es wie es kommen musste: Wir waren nicht verliebt, hatten eine gute Zeit und auch Nummern ausgetauscht. Wir blieben in Kontakt aber ein echtes Interesse hatte ich nicht mehr. Nachdem es leid war, aus Höflichkeit den Schein zu wahren, offenbarte ich mich und hieß fortan Arschloch. Warum? Sie hatte sich in mich verliebt. Herrgott. Dabei hatte ich weder etwas versprochen, noch in Aussicht gestellt. Wir hatten vor einfach nicht drüber geredet, sondern es getan.

Meine liebe Mitbewohnerin aus der Zeit, etwas älter und reifer an Erfahrung als ich damals, meinte, das liege an sogenannten Bindungshormonen, die Frauen beim Orgasmus ausschütteten, Männer hingegen nicht. Wenn eine Frau das sagt, dann muss es stimmen, glaubte ich naiver Weise. Meine erste oberflächliche Recherche hat das auch bestätigt. Allerdings war die Quelle äußerst dubios.

„Frauenkenner“ Christian Sander behauptet, Frauen würden Oxytocin „hauptsächlich durch Sex“ Männer „hauptsächlich durch die Aussicht auf Sex“ ausschütten. Auch wenn das alles meine These perfekt untermauern würde – das Wörtchen „hauptsächlich“ hätte Ladychecker Sander durch „vielleicht“ ersetzen müssen. Und selbst dann wäre seine These durch nichts belegt. Meine innere Alice Schwarzer ist beruhigt. Denn ich konnte, obschon ich lange gesucht habe, keinen Beleg für Sanders These finden. Ja, Oxytocin ist offenbar dafür verantwortlich, dass wir uns aneinander binden. Aber es wird genauso beim Singen, Musizieren oder beim netten Plausch freigesetzt wie beim Sex. Und dann von Männlein und Weiblein gleichermaßen. Wer eine andere Untersuchung kennt: bitte, gerne her damit!

Wie seht es also um meine Theorie bzw. die von Frau Ott. Meine Variante funktioniert auch umgekehrt: Mann und Frau schlafen miteinander. Er verliebt sich (oder war es vorher schon). Sie zieht sich zurück, meldet sich nicht mehr. Genauso schon passiert.

Sex ist natürlich eine schöne Sache. Aber unabhängig vom Geschlecht: Je leichtfertiger wir uns auf eine schnelle Nummer einlassen, mit jemanden, der uns auch unabhängig vom Sex etwas bedeuten könnte, umso höher ist das Risiko, dass wir emotional verletzt werden oder jemanden verletzen.

Ein nullter Sex kann nicht schaden, auch wenn weder Clara Ott noch ich das Prinzip erfunden haben. Vom Mind Sex sprach schon Rapper Dead Prez. Und wie hieß es noch bei Salt ‘n‘ Pepa:

Let's talk about sex, baby
Let's talk about you and me
Let's talk about
all the good things
And the bad things that may be

In der zweiten Strophe geht es da übrigens um eine Femme fatal, die alle Männer bekommt. Doch im Fazit heißt es dann:

She had it all in the bag so she should
have been glad
But she was mad and sad and feelin' bad
Thinkin' about the things that she never had
No love, just sex, followed next with a check and a note
That last night was dope”

Und das gilt genauso für die Herren der Schöpfung.