25.01.2012

Desillusioniert

Was die Ungarn sagen

► Die Fidesz verliert Sympathisanten in Scharen, Ministerpräsident Orbán scheint nichts aus seinen Fehlern gelernt zu haben. Drei Ungarn äußern ihren Unmut

Guardian-Reporterin Helen Pidd war in Budapest und hat mit Vertetern der Oppositionsbewegung gegen Ministerpräsident Viktor Obrán gesprochen.

Ich habe von Berlin aus drei Ungarn über die Lage ihres Landes sprechen lassen. Beides zusammen ist in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung der Freitag auf einer Ungarnseite zu finden.

Dezsö Nagy (70), aus Budapest, pensionierter Lehrer

„Es soll an unseren Schulen künftig täglich Sportstunden geben, außerdem Reitunterricht für jeden. Das versteht Viktor Orbán offenbar unter Kulturbildung, ganz abgesehen davon, dass die Regierung das gar nicht bezahlen kann. Oft hat eben die Fidesz nichts als unüberlegte Ad-hoc-Politik und Populismus zu bieten. Nur ein Beispiel: Bevor die Ersparnisse Tausender Rentner kassiert wurden, erreichte ein Fragebogen alle Rentnerhaushalte, unterzeichnet von Orbán persönlich. Der fragte die Pensionäre, also auch mich, nach ihrer Meinung zur Regierung. Ich habe mit einem Brief geantwortet und darin Orbán gefragt, warum er ausgerechnet meine Meinung hören wolle, wenn er doch sonst auf die seiner politischen Gegner pfeift. Und dann habe ich ihn zitiert. Nachdem Orbán Gespräche mit der Opposition über ein neues Gesetz abgelehnt hatte, sagte er einmal: „Es wäre zwecklos gewesen, Verhandlungen zu führen. Wir hätten uns sowieso durchgesetzt.“ Mit anderen Worten: Wenn wir das so wollen, wird es auch so gemacht – das ist sein Verständnis von Demokratie.

Lászlo Pinter (52) aus Kaposvár, Kleinunternehmer

„Wenn ich hier in unserer Stadt Kaposvár eine Be­hörde betrete, in der die KP vor 1989 ihre Sitz hatte, umgibt mich die gleiche Atmosphäre wie damals. Niemand weiß etwas, keiner fühlt sich zuständig, keiner ist verantwortlich – genau wie früher. Ich habe zwei gute Freunde, ein Paar: Er hat die Fidesz gewählt, sie die grüne LMP. Ich sagte zu ihm: Dafür, dass du den Orbán gewählt hast, kannst du dir gleich von deiner Bea eine Ohrfeige abholen. Und wenn du das überstanden hast, hol dir morgen bitte die nächste ab. Aber wir hatten eben 2010 nur die Wahl zwischen verschiedenen Räubern. Im ersten Wahlgang habe ich für Jobbik (Rechtsaußen­partei – d. Red.) gestimmt, weil die versprochen haben, die Vorgängerregierung zur Rechenschaft zu ziehen. Denn die Sozialisten haben Ungarn zugrunde gewirtschaftet. Im zweiten Wahlgang habe ich der LMP meine Stimme gegeben, aber da war es ohnehin zu spät. Orbán hatte seine zwei Drittel sicher.

Gizela Vilmosné, (67) aus Györ, arbeitet nebenher als Steuerberaterin

Die Leute gehen auf die Straßen, Anfang Januar sollen es Hunderttausend gewesen sein. Es waren nicht die Parteien, sondern die Bürger, die da demonstrierten. Nachdem Orbán mit seinen Leuten im Budapester Opernhaus die neue Ver­fassung gefeiert hatte, mussten er durch die Hintertür verschwinden. Derzeit traut er sich nicht mehr selbst aufs Podium, er schickt seine Sprecher vor – als sei er mit einem U-Boot irgendwo untergetaucht. Ich glaube, er hat Angst. Derselbe Mensch, der unter der Vorgängerregierung noch auf der Straße war und unter die Leute gegangen ist, lässt sich jetzt nirgends mehr blicken. Unsere Hoffnung liegt nur noch bei der EU. Wenn Ungarn mit der einen Vertrag unterschreibt, muss der auch eingehalten werden. Doch die Fidesz-Leute halten sich für so schlau, dass sie glauben, nur was sie wollen, sei richtig. Sie lassen sich von nirgendwoher Ratschläge erteilen, auch nicht aus Brüssel.

Es gibt in Ungarn auch Unterstützer für Orbáns Kurs. Auch, wenn die Fidesz Pro-Regierungsdemonstrationen organisiert und zum Teil Busse für die Anfahrt nach Budapest gestellt hat, soll diese Bewegung an dieser Stelle nicht ausgeklammert werden. Dazu ein Bericht aus dem Pester Lloyd

Ein weiterer Angriff der Fidesz auf die Oppositionsbewegung muss hier ebenfalls erwähnt werden:

Marion Kraske schreibt auf Cicero Online:

"Während Orbán in Brüssel mit Blick auf die notwendigen Milliardenhilfen durchaus Verhandlungsbereitschaft signalisiert, schafft er zu Hause schon wieder neue Fakten. Mit einem Trick hebelte seine Partei das Versammlungsverbot aus: Für den 15. März, den ungarischen Nationalfeiertag, der traditionell von allen Lagern für Kundgebungen genutzt wird, reservierte Fidesz in weiser Voraussicht die wichtigsten Plätze in der Hauptstadt für Regierungsveranstaltungen – und zwar nicht nur für dieses, sondern für die nächsten zwei Jahre gleich mit. Für die Opposition bleibt da kaum noch Raum. Im Orbanschen System haben Kritiker nichts zu suchen. Der ungarische Premier treibt das Spielchen also weiter: In Brüssel gibt er kleinlaut Dr. Jekyll, zu Hause gebärdet er sich großspurig als Mr. Hyde. Brüssel sollte dieser Taktik nicht auf den Leim gehen."

Erscheinungsort: Der Freitag