03.06.2012

GLS im Kleinen

Bitte keine Werbung!

► Altmeister Günter Wallraff kann’s immer noch. Er hat gezeigt, wie GLS seine Fahrer ausbeutet, ihnen die volle Verantwortung auflädt und sie mit Strafen in den finanziellen Ruin treibt. Vieles erinnert mich an meine Zeit als Fahrer bei einem Werbedistributor. Ein Rückblick.

Der Laderaum ist überfrachtet. Im hinteren Teil stapelt sich das Papier fast bis zur Decke: Werbe-Prospekte von Edeka, Lidel, Kaufland und Praktiker. Sie sind mit Nylonschnüren zu Paketen gebündelt. Die schwersten von ihnen wiegen 30, vielleicht 40 Kilogramm. Ob der Kastenwagen die zulässigen dreieinhalb Tonnen überschreitet? Bestimmt. Doch mir darüber den Kopf zerbrechen – dazu fehlt die Zeit. Günter Wallraffs neuste Reportage im ZEITmagazin ruft düstere Erinnerungen in mir wach.

Er liegt schwer in den Kurven, mein Lieferwagen. Jetzt rast er mit 130 Sachen auf einer langen Gerade über ein verlassenes Stück Landstraße. Erlaubt sind hier 80. Falls ein Reh auf die Straße springt? Den Bremsweg will ich mir nicht ausmalen. Nur weiter. Ich rase, um auf diesem monotonen Stück nicht einzunicken, in der Hoffnung, dass mich Konzentration, kalter Fahrtwind und Lärm aus dem Autoradio wachhalten.

Vor mehr als 14 Stunden bin ich heute Morgen in die Firma gekommen, rechne ich an der Ampel zurück. Das war um kurz nach Zehn, jetzt zeigt die Digitaluhr im Peugeot 0:34 Uhr. Rund 13 Stunden lang habe ich Prospekte gepackt, dann eine halbe Stunde das Fahrzeug beladen. Statt nach Hause ging es für mich dann auf die Straße. Vier bis fünf Stunden habe ich noch vor mir: fahren, aussteigen, abliefern – fahren, ausstiegen, abliefern und so weiter.

Ein Hupen reißt mich aus meinen Gedanken. Die Ampel hat längst wieder auf Grün geschaltet. Schnell weiter. Laute Musik, Müdigkeit und Geschwindigkeit berauschen mich. An der nächsten Ampel komme ich wieder zu mir: „Was mache ich hier eigentlich“, frage ich mich, diesmal laut. „Du solltest längst im Bett liegen und Morgen an deiner Diplomarbeit weiterschreiben.“

Nach meinem Auslandsjahr glaube ich im Herbst 2009, ich könne unmöglich wieder bei meinen Eltern einziehen. Um mir mein WG-Zimmer leisten zu können, gehe ich vier Tage in der Woche arbeiten – Prospekte kommissionieren und ausliefern. Darunter leidet vor allem meine Diplomarbeit, Wochenenden wie dieses rauben mir jede Motivation. Mein Verdienst dafür: 7,50 Euro in der Stunde – und das im wohlhaben Münster, das 2004 zur lebenswertete Stadt der Welt gekürt wurde. Einen Nacht- oder Wochenendzuschlag gibt es nicht.

Todmüde falle ich ins Bett – nach 19 Stunden, meiner persönlicher Rekord-Schicht. Andere haben das locker übertroffen. Ich bin erledigt, gleichzeitig jedoch glücklich und erleichtert, weil ich weiß: Ich schmeiße den Job. Lieber ziehe ich wieder zuhause ein. Schließlich habe ich die Wahl – anders als manche Kollegen.

Markus etwa (Alle Namen geändert). Früher Fluglotse war er lange Zeit Fahrer bei der Konkurrenz. Jetzt ist er neben Vorarbeiter Ahmed der wichtigste Mann in der Firma. Eigentlich ist er unverzichtbar. Dem Chef ist er aber zu teuer. Markus muss gehen – vorläufig. Nachdem seine Papiere beim Amt eingegangen sind, wird Markus wieder eingestellt. Nur diesmal mit einer statten Unterstützung vom Staat. Das Jobcenter zahlt einen Eingliederungszuschuss – maximal 50 Prozent des Lohns, höchstens zwölf Monate lang. Wie viel mein Chef der Situation rausholt, finde ich nicht heraus. Jedenfalls sieht er, ein bekennende Nichtwähler, kein Problem darin, die Hungerlöhne, die er zahlt, auch noch vom Steuerzahler subventionieren zu lassen. Ein Paradebeispiel dafür, wie findige Unternehmer die Regelungen der Agenda 2010 in der Praxis missbrauchen.

Wer einen Unfall baut, zahlt 100 Euro Selbstbeteiligung. Pannen, Beulen und abgefahrene Spiegel, so könnte man meinen, gehören für jeden Fahrbetrieb zum Alltag. Fragt man den Chef, warum nicht die Versicherung dafür aufkommt, lautet die Antwort, seine Versicherungsklasse sei mittlerweile zu hoch. Zwar ist das weder meine Schuld, noch irgendwo schriftlich festgehalten, doch nachdem mir beim Rangieren ein Außenspiegel zu Bruch geht, wird mir die Summe kommentarlos vom Lohn abzogen.

Der übrigens kommt grundsätzlich zu spät, gut eineinhalb Monate nach Ende des Abrechnungszeitraums. Manchmal noch später. Und einmal so spät, dass einer meiner Kollegen aus seiner Wohnung fliegt, weil er seine Miete nicht bezahlen kann. Dass einem seiner wichtigsten Mitarbeiter der Rausschmiss droht, bringt meinen Chef nicht dazu, wenigstens einen Abschlag zu zahlen, geschweige denn den längst fälligen Lohn zu überweisen. Die Ausreden sind immer die gleichen: Die Kunden zahlen auch immer zu spät. Oder: Das Firmenkonto liegt im Soll. Das Minus kann so groß nicht sein. Denn immerhin ist genug übrig, um eine zweite Firma zu gründen.

Der Wahnsinn, den Günter Wallraff als embedded Reportage bei GLS beschreibt, beschränkte sich in der Firma, in der ich bis Ende 2009 arbeite, meistens auf die Wochenenden: Die Verteiler, oft Schüler, müssen die Prospekte bis Sonntagnachmittag zustellen. So ist es mit den Kunden abgemacht. Wenn die Werbung der wichtigsten Kunden – in der Regel ist es auch die schwerste – aber erst am Freitagnachmittag im Lager eintrifft, läuft die Planung unseres Vorarbeiters Ahmed aus dem Ruder. Das allerdings ist der Normalfall. Dann stehen drei bis fünf Mann bis spät in der Nacht vor den Bündelmaschinen, um im Anschluss drei bis fünf Stunden auszufahren.

Der Chef geht pünktlich um Sieben. Schließlich hat er um acht Training, so wie ich: sein Trainer. Über den Sport-Verein lerne ich Marius Jahre zuvor kennen, entwickele ein kumpelhaftes Verhältnis zu ihm. Lange ist er für mich ein sympathischer Sprücheklopfer. Als ich für einen Urlaub Geld brauche, fange ich an, bei ihm zu jobben. Anfangs, vor meinem Auslandsjahr, will ich nur etwas dazu zu verdienen. Ich wohne noch bei meinen Eltern. Auf Nachtfahrten, von denen ich nur zu hören bekomme, bin ich noch nicht angewiesen. So fahre auch ich pünktlich um Sieben gemeinsam mit Marius zum Training.

Das ändert sich, als ich auf sein Geld angewiesen bin, um meine Wohnung zu bezahlen. Seitdem ist das Freitagstraining für mich gestorben. So erlebe ich, wie es ist, vor der Waage zu stehen und nach gut neun Stunden noch immer auf Hochtouren Prospekt zu bündeln, während jüngere Kollegen, die keine der großen Nachttouren haben, und der Chef in den Feierabend gehen. Wie die Fahrer es schaffen, alles rechtzeitig auszuliefern, ist Marius egal. Das sagt er auch, sein Job sei Chef. Die ganze Verantwortung lastet auf Ahmeds Schultern. Einem liebenswürdigen Ägypter mit Frau und kleiner Tochter. Loszufahren, während dutzende Paletten im Lager die Wege versperren – das würde bedeuteten, Ahmed im Sticht zu lassen. So bleibt bei jenen, die Ahmed helfen und bis zuletzt bleiben, auch immer die Wut auf die anderen Kollegen, die irgendwann nur noch an den eigenen Feierabend denken und losfahren. Im Nachhinein betrachtet scheint es, als habe Marius das dankend in Kauf genommen. Es verhindert, dass die Fahrer sich untereinander solidarisieren.

In solchen Nachtstunden denken Ahmed und ich mehr als einmal laut darüber nach, einfach alles stehen zu lassen und zu gehen. Wenn wirklich alle dabei wären– ich würde ohne zu zögern ernst machen. Für Ahmed steht jedoch zu viel auf dem Spiel: Er als Familienvater ist auf das feste Einkommen angewiesen – egal wie spät es auf seinem Konto landet.

Eines Tages fragt mich Marius, was mir einfalle, die Kollegen gehen ihn aufzuhetzen. Das ist der perfekte Zeitpunkt für mich nun wirklich zu gehen. Seitdem klebt an meinem Briefkasten ein Schild: Bitte keine Werbung!